Der Schatten der Türkei: Wie das Regime die Demokratie Europas herausfordert – Eine Analyse der Einflussnahme und des Widerstands
Die Gleichschaltung der Medien in der Türkei unter Präsident Erdoğan ist nicht nur ein innerstaatliches Drama, sie wirft lange Schatten bis tief nach Europa. Was sich am Bosporus als Erosion der Pressefreiheit abspielt, manifestiert sich in europäischen Hauptstädten als subtile, doch gefährliche Einflussnahme, die die demokratischen Fundamente unserer Gesellschaften bedroht.
Die Verlängerung des Arms: Erdogans Einfluss in der Diaspora
Für Birol Kilic, Verleger türkischer Medien in Österreich, ist die Sache klar: Die türkische Regierung nutzt ihre „verlängerten Arme“ in Ländern wie Österreich, um aktiv in die Tagespolitik einzugreifen. Kilic kritisiert scharf, dass österreichische Parteien – ob SPÖ oder ÖVP – mit diesen regierungsnahen Akteuren kooperieren und sie damit „salonfähig“ machen. Diese Praktiken untergraben die freiheitlich-demokratische Grundordnung Europas, die mühsam erkämpft wurde. Journalisten in Österreich, die kritisch über die Türkei berichten, müssen mittlerweile sehr vorsichtig sein, da in der Türkei über 20 Journalisten aufgrund ihrer Tätigkeit inhaftiert wurden und auch im Ausland zunehmend Selbstzensur zu beobachten ist.
Der Kampf um die Informationshoheit in der Diaspora
Doch der Kampf um die Deutungshoheit ist nicht verloren. Unabhängige türkische Medien in der Diaspora, wie etwa der Verlag von Kilic in Österreich, bieten eine wichtige Gegenstimme. Sie berichten kritisch nicht nur über österreichische Politik und Wirtschaft, sondern auch über die Türkei und ihre Einflussnahme. Über Facebook erreicht Kilic' Verlag „Millionen Menschen“. Dies zeigt deutlich, dass türkeistämmige Menschen in Europa für ihre unmittelbare Lebensrealität auf lokal produzierte, türkischsprachige Medien zurückgreifen, da Themen wie Staatsbürgerschaft, Pensionen oder Wohnungsmarkt nicht durch türkische Medien aus Istanbul ausreichend behandelt werden.
Wertekonflikt und der verlorene Laizismus
Ein zentraler Konflikt, der sich auch in der Medienlandschaft widerspiegelt, ist der Bruch mit dem Laizismus. Kilic, selbst überzeugter Muslim, beschreibt den Laizismus als „Sauerstoff für die Demokratie“. Die Erdoğan-Regierung instrumentalisiere hingegen Religion, um Menschen gegeneinander aufzubringen und politische Kontrolle auszuüben. Regierungsnahe Medien fördern diese religiös geprägte Agenda, während unabhängige Berichterstattung gezielt verdrängt wird.
Die Kurdenfrage: Ein Stachel im Herzen der Demokratie
Die ungelöste „Kurdenfrage“ bleibt das größte Hindernis auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie in der Türkei. Die Journalistin und Buchautorin Duygu Özkan macht deutlich: Solange demokratisch gewählte Parteien wie die HDP marginalisiert, deren Vertreter inhaftiert und ihre Anliegen in den Medien ignoriert werden, kann die Türkei keinen Frieden finden. Staatlich kontrollierte Medien wie TRT Kurdî sind laut Özkan lediglich „kurdischsprachige Medien türkischer Nachrichten“ und spiegeln nicht die Realität der kurdischen Bevölkerung wider. Die unabhängige kurdische Medienlandschaft wurde faktisch ausgelöscht. Özkan betont, dass wahre Demokratie nicht allein durch Mehrheitsentscheidungen definiert wird, sondern durch die angstfreie Meinungsäußerung jeder Minderheit – ein Ideal, das derzeit in der Türkei untergraben wird.
Ein Ruf nach europäischer Konsequenz
Die Europäische Union, die durch Angebote wie die Deutsche Welle in Regionen wie dem Westbalkan unabhängige Informationsangebote fördert, muss im Falle der Türkei eine klarere Haltung einnehmen. Adelheid Feilcke von der Deutschen Welle unterstreicht, wie essenziell glaubwürdige und unabhängige Informationen in Regionen sind, in denen Desinformation zunimmt und Medien zunehmend von Oligarchen oder politischen Gruppen kontrolliert werden. Die Deutsche Welle zeigt durch Kooperationen mit lokalen Journalisten, wie unabhängige Berichterstattung ohne paternalistische Ansätze funktionieren kann.
Der Vergleich mit Ungarn verdeutlicht die Ernsthaftigkeit der Lage. Mediensoziologe Matthias Pfeffer weist auf eine „Rolle rückwärts“ in vielen ehemals kommunistischen Ländern hin, in denen Medien erneut als Werkzeuge der Regierung instrumentalisiert werden. Birol Kilic betont jedoch, dass Ungarns Situation vergleichsweise eine „Show“ sei gegenüber der „harten Realität“ in der Türkei.
Die digitale Landschaft und soziale Medien sind trotz zunehmender Zensur entscheidende Orte alternativer Information geworden. Europa steht vor der Herausforderung, nicht nur die Gefahren gezielter Desinformation und politischer Einflussnahme klar zu erkennen, sondern proaktiv eigene wertebasierte Plattformen zu fördern, um den freien Zugang zu unabhängigen Informationen sicherzustellen.
Es ist höchste Zeit, dass Europa seine demokratischen Grundwerte nicht nur verbal verteidigt, sondern entschlossen handelt, wenn autoritäre Entwicklungen an seinen Grenzen und innerhalb seiner Gesellschaften zunehmend bedrohlich werden. Die aktuelle Situation in der Türkei ist ein dringender Weckruf, der in Brüssel und allen europäischen Hauptstädten endlich gehört werden muss.